Faszination Rechenschieber
1 Faszination Rechenschieber
Von analogen, logarithmischen Recheninstrumenten
- Dieser Artikel erschien in der HBW Nr. 70 (April 2005)
- Autor: Diethard Erbslöh, Benningen am Neckar
Der gestandene Sammler historischer Rechenmaschinen kennt sich natürlich bestens aus mit der Bewältigung von Rechenvorgängen durch Maschinen, d.h. mit Rechengeräten, die mindestens eine automatische Komponente enthalten. Mit diesem Artikel soll näher auf Geräte eingegangen werden, bei denen Rechenvorgänge ohne automatische Funktionen ablaufen. Es geht um die seit fast 400 Jahren bekannten Rechenschieber (früher auch als Rechenstäbe bezeichnet) mit ihren späteren Modifikationen als Rechenzylinder, Rechenwalze, Rechenrost, Rechenscheibe, Rechenuhr, u.ä.
Abb. 1: Diverse Rechenschieber aus der Sammlung Erbslöh
Rechenschieber gehörten noch in der Mitte des letzten Jahrhundert in die Jackentasche eines jeden Handwerksmeisters oder Ingenieurs. Es waren unentbehrliche Helfer für Berechnungen, speziell Kalkulationen sowohl im technischen als auch kaufmännischen Bereich. Erst in den 1970er Jahren wurden sie durch die Entwicklung der billigeren, universeller einsetzbaren und auch leichter zu bedienenden elektronischen Taschenrechner gnadenlos verdrängt. Die Geschichte der Rechenschieber ist dennoch eine Erfolgsstory und gekennzeichnet durch faszinierende Entdeckungen und Entwicklungen. Ihre Produkte führen bei Sammlern technischer Geräte leider ein Schattendasein, - sehr zu Unrecht, wie ich meine. Deshalb will ich der Faszination Rechenschieber für unsere Leser mit diesem Bericht etwas näherkommen.
Grundprinzip des Rechenschiebers
Ein Rechenschieber besteht in seiner Basis aus zwei aneinander vorbeigleitenden Stäben mit jeweils einer Skala, die einerseits zum Einstellen von Eingabewerten dient und andererseits zum Ablesen von Rechenergebnissen, den Resultaten. Es gelten folgende Grundregeln:
- Die Schieber können stufenlos und fließend verstellt bzw. verschoben werden. Deshalb handelt es sich um analog arbeitende Geräte, - im Gegensatz zu digital arbeitenden Geräten, mit einzeln darstellbaren Stellungen und Anzeigen.
- Auf logarithmischen Rechenschiebern und ähnlichen Geräten werden Rechenvorgänge wie Multiplizieren und Dividieren, auch Potenzieren und Radizieren durchgeführt. Additionen und Subtraktionen sind nicht unmittelbar möglich.
An den Grundrechenarten lassen sich die Möglichkeiten und Grenzen des Rechenschiebers leicht erklären. Betrachten wir zunächst das Addieren mit einem Meterstab: Wenn man an die Skala eines Stabs z.B. bei 53 cm einen zweiten Stab anlegt, so kann man z.B. bei 36 cm das Additionsergebnis von 89 cm auf dem ersten Stab ablesen. Zwei Längen aneinandergereiht ergeben ein Additionsergebnis (eine Summe)!
Bei einem logarithmischen Rechenschieber ergibt das Ergebnis zweier nach rechts aneinandergereihter Strecken jedoch ein Multiplikations-ergebnis (ein Produkt)! So lässt sich eine mitunter komplizierte, mehrfache Multiplikation durch eine Folge von Additionen umsetzen! Divisionen erfolgen analog mit Folgen von Strecken in entgegengesetzter Richtung (Subtraktionen). Wie ist das möglich?
Mathematische Grundlagen
Diese Rechenschieber haben keine lineare Skaleneinteilung sondern eine logarithmische. Die Entdecker des Logarithmus (griechisch.: Verhältniszahl) hatten nämlich herausgefunden, dass man eine Multiplikation auch dadurch ausführen kann, indem man die Exponenten (Hochzahlen) einer Zahl addiert. Das lässt sich am Beispiel von Zehnerexponenten besonders anschaulich darstellen:
Wenn man diese verblüffende Erkenntnis weiterentwickelt, kann man sich auch vorstellen, dass diese Regel ebenso für Zwischenwerte, also auch für nicht ganzzahlige Exponenten gilt. So ist z.B.:
Der Logarithmus lässt sich ebenso leicht auf die Division, das Potenzieren und das Radizieren anwenden. So ist z.B.:
Zur leichteren Kontrolle sind die numerischen und logarithmischen Werte der Zahlen von 1 bis 10 in der nachfolgenden Tabelle gegenübergestellt:
Es ist bemerkenswert, dass für Zahlen auf der Basis 10 dieselben logarithmischen Werte gelten. Also haben 2 oder 20 oder 200 den gleichen Logarithmus nach dem Komma. Eine Logarithmentabelle reicht deshalb nur von 1 bis 10. Die entsprechende Stellenzahl bzw. die Stellung des Kommas kann beim Rechnen unschwer separat ermittelt werden.
Als Entdecker der Logarithmen gelten der Schweizer Jost Bürgi (1552 1632) und der Schotte Lord Napier (1550 1617; derselbe Mathematiker, der durch seine Rechenstäbchen berühmt wurde). Beide errechneten zu Anfang des 17. Jahrhunderts unabhängig voneinander in jahrzehntelanger Arbeit Logarithmentabellen mit 9- bzw. 14-stelliger Genauigkeit! Die oben beschriebenen dekadischen Logarithmen (auf der Basis 10), berechnete als Erster der Engländer Henry Briggs (1556 - 1630). - Der Autor des vorliegenden Artikels legt als Wahlschwabe Wert auf die Feststellung, dass schon der Pfarrer und Mathematiker Michael Stifel (1487 1567) aus Esslingen das Rechnen mit Hochzahlen entdeckt und beschrieben hat. Von ihm stammt übrigens auch der Begriff Exponent.
Technische Grundlagen
Die folgerichtige Weiterentwicklung des Rechnens mit Logarithmen war deren Umsetzung in mechanische Arbeitsschritte. So entwickelte der Engländer Edmund Gunter (1581 1626) ein Lineal, auf dem die Werte von 1 bis 10 in logarithmischem Maßstab aufgetragen waren, - die sogenannte Gunter-Skala. Mit einem Stechzirkel konnten bestimmte Werte (= Zahlen) abgegriffen und so aneinandergereiht werden, dass durch diese Addition von Strecken ein Multiplikationsergebnis ablesbar wurde.
Der Engländer William Oughtred (1575 1660) ging auf dem Weg zur Entwicklung des Rechenschiebers einen wesentlichen Schritt weiter. Er brachte die Gunter-Skala auf zwei losen Stäben auf, die so aneinander vorbei geführt werden konnten, dass Zahlen für eine Multiplikation eingestellt und nach gegenseitigem Verschieben deren Produkt abgelesen werden konnten. Ein weiterer Fortschritt bestand darin, zwei Rechenstäbe fest zu montieren und zwischen ihnen (ihrer Spur) einen weiteren Rechenstab als Schieber gleiten zu lassen. Damit war die typische Grundform des Rechenschiebers gefunden. Später kam ein durchsichtiger Läufer hinzu, der über die Stäbe hinweggleiten und bestimmte Stellen markieren konnte. Dort konnten Werte in übereinander liegenden Skalen leichter abgelesen oder neue Rechenvorgänge aufgesetzt werden.
Der Rechenschieber fand eine Vielzahl von Variationen dadurch, dass die verschiedenenartigsten Skalen aufgebracht wurden, neben den normalen Zahlenwerten auch solche mit Werten der Quadrat- und Kubikzahlen, von reziproken Werten (Kehrwerten), von Winkelfunktionen wie Sinus, Cosinus, Tangens, auch für Prozentzahlen und viele andere mehr. Für bestimmte Branchen wurden Rechenschieber mit speziellen Skalen erstellt z.B. für die Berechnung von (ausländischen) Längen- und Raummaßen oder von Gewichten. Um eine Übersicht in die Vielfalt verschiedenster Skaleneinteilungen zu bringen, wurden Standardabkürzungen eingeführt wie z. B. K für Kubikwerte.
Eigenarten des logarithmischen Rechenschiebers
Ein Nachteil des Rechenschiebers zeigt sich darin, dass die Genauigkeit der Skala nach rechts hin abnimmt. Während bei einem Rechenschieber (mit Standardlänge 25 cm) auf der linken Seite die Zahlen 1 und 2 etwa 7,5 cm auseinanderliegen und dort entsprechend genaue Unterteilungen aufweisen, liegen auf der rechten Seite die Zahlen 9 und 10 nur etwas mehr als 1 cm auseinander (siehe Abb. 1). Vergleiche hierzu auch obige Zahlentabelle: Nach unten liegen die Werte immer dichter beieinander. Wenn genauere (d.h. nicht ablesbare Zwischenwerte) erwünscht waren, wendete man die Interpolierung an, ein Rechenverfahren zur mathematischen Bestimmung von Zwischenwerten.
Durch konstruktive Maßnahmen suchte man das Problem derart zu lösen, dass man längere Rechenschieber baute. Aber das ging nur bis zu einem bestimmten Grade. Es wurden Rechenschieber mit einer Länge von 0,5 m, 1 m und sogar 2,5 m gebaut. Man konnte sie natürlich nur schwer handhaben. So kam man auf die Idee, einen langen Rechenschieber in einzelne Strecken aufzuteilen und in übereinanderliegenden Zeilen auf einer Walze wieder zusammenzusetzen. So wurde z. B. häufig ein 15 m langer Rechenschieber in gleiche Teile von etwa 25 cm geteilt und zu einer Rechenwalze montiert. Auf die innere Walze setzte man einen äußeren, beweglichen durchsichtigen Zylinder mit der gleichen Einteilung (siehe Abb. 2). So konnte durch Schieben und durch Drehen der gewohnte Vorgang des Rechenschiebers durchgeführt werden, wobei wegen des größeren Maßstabs der Skala wesentlich genauer abgelesen werden konnte. Ähnliches gilt für die ineinander verschiebbaren Rechenzylinder.
Abb. 2: Rechenwalze Loga, der Fa. Daemen-Schmid, Zürich
- Die Abbildung zeigt eine Rechenwalze montiert auf einem Holzgestell, mit Holzdeckel und drehbarem Dreikantholz mit Tabellen für die Umrechnung von reziproken Werten, Zinsdivisoren und Brüchen in Dezimale. Das seltene Gerät wurde etwa 1915/20 von der Firma Daemen-Schmid, Zürich hergestellt. Die Walze hat einen Durchmesser von 15,5 cm und entspricht der Länge eines Rechenschiebers von 15 m
Eine interessante Zwischenstufe aus Rechenschieber und Rechenwalze ist der Rechenrost (siehe Abb. 3). Auf einer ebenen Fläche wurden z.B. 10 Teil-Streifen eines z.B. 2,40 m langen Rechenschiebers aufgetragen und hierauf eine durchsichtige verschiebbare Platte (der Schieber) gesetzt. Er enthält die gleichen Skalen nur gegenläufig, also reziprok. Er kann verschoben und zeilenweise versetzt werden. Dadurch kann der Multiplikator direkt auf den Multiplikand aufgesetzt und das Ergebnis an einer (und nur einer) der Ecken des Rechenrosts in markierten Kreisen abgelesen werden. Der abgebildete seltene Rechenrost Lori wurde von der Firma Kienbaum in Gummersbach/Rhld. etwa 1926 hergestellt.
Abb. 3: Rechenrost Lori der Fa. Kienbaum, Gummersbach/Rhld.
Ein Nachteil des Rechenschiebers lag auch darin, dass er auf eine bestimmte Länge begrenzt war. Wenn es vorkam, dass man beim Aneinanderreihen zweier Strecken über den Rand hinauskam, dann musste man den Schieber zurückschieben und an passender Stelle des Rechenschiebers wieder aufsetzen. Das konnte leicht zu Unstimmigkeiten führen. Deshalb wurden Rechenschieber mit einer konzentrischen Anordnung der Skalen entwickelt, die Rechenscheibe (siehe Abb. 4). Die erste logarithmische Rechenscheibe wurde von dem schon erwähnten William Oughtred erfunden. Bei Rechenscheiben kann man eine bewegliche Skala an einer fest montierten im Kreise vorbeidrehen und kommt über ein Ende des "Rechenstabs" nicht hinaus. In gleicher Weise konnte eine Rechenscheibe in der handlicher Größe einer Taschenuhr gebaut werden, die Rechenuhr.
Rechenscheiben wurden mitunter dahingehend entfremdet, dass die Ergebnisse nicht mehr errechnet werden mussten, sondern für bestimmte Werte bereits vorgegeben waren, z. B. für Versicherungstarife. In diesem Fall werden sie als Datenschieber bezeichnet. Das gilt auch für Rechenschieber.
Bei einiger Übung im Gebrauch mit Rechenschiebern lassen sich die aufgeführten Nachteile mühelos überbrücken. Die Vorteile überwiegen bei weitem. Bevorzugte Anwendungen waren Überschlagsrechnungen, speziell für die Kalkulation. Sobald ein Grundwert eingestellt war (ein Multiplikand), konnte man bei gleicher (!) Einstellung für eine Vielzahl von Faktoren (Multiplikatoren) entsprechende Ergebnisse ablesen. So lassen sich z.B. für eine bestimmte Menge bei veränderten Stückpreisen mühelos unterschiedliche Endpreise kalkulieren.
Es stimmt ein wenig wehmütig, dass dieses geniale, fast 400 Jahre genutzte Recheninstrument durch weniger raffinierte Rechengeräte völlig verdrängt wurde. Aber da gibt es zum guten Glück ja noch die Sammler!
Gestaltungsvielfalt
Für Sammler von Rechenschiebern und deren Verwandten ergibt sich aus dem Gesagten ein riesiges Aktionsfeld. Die verschiedenartigsten Ausführungen können in diesem Rahmen nicht annähernd erschöpfend behandelt werden. Vielleicht konnte aber doch Neugier geweckt werden, ihrem Ideenreichtum mit einer faszinierender Gestaltungsvielfalt nachzuspüren und ein auf einem Flohmarkt entdecktes Objekt künftig genauer zu inspizieren. Als Anhaltspunkte sollen angeführt werden: verschiedene Hersteller und Patente, unterschiedliche Skalen, verschiedenartige Materialien und Formen, länderspezifische Eigenarten, kuriose Hilfsmitteln wie z.B. Läufer mit Lupe und schließlich verschiedenartigste Verpackungen und Transportmittel wie z.B. umschnallbare Tragetaschen.
Abb. 4: Diverse Rechenscheiben aus der Sammlung Erbslöh
Besonders interessant sind auch Kuriositäten wie Rechenschieber, auf deren Rückseite ein Addiator (Zahlenschieber) angebracht war, um auch Additionen und Subtraktionen zu ermöglichen. Auch gibt es Rechenschieber, die mit einem Taschenrechner kombiniert waren. Sie konnten aber die Entwicklung dieser Konkurrenz nicht aufhalten.
Nicht zuletzt haben Rechenschieber als Sammelobjekt den besonderen Vorteil, dass sie auf kleinstem Raum untergebracht werden können. Für Sammler von Rechenschiebern gibt es gute Möglichkeiten eines internationalen Gedanken- und Erfahrungsaustauschs, - in den USA: Oughtred Society www.oughtred.org, in Großbritannien: Slide Rule Circle www.sliderules.org.uk und in Deutschland: www.rechenschieber.org, deren Website von IFHB-Mitglied Peter Holland betreut wird.
Weiterführende Literatur:
(1) Erbslöh, Diethard: Zahlen, Zählen, Rechenkünste; Katalog zur gleichnamigen Sonderausstellung im Museum Benningen (1999)
(2) Herwijnen, Hermann van: Slide Rule Catalogue (1999) mit einer CD, die eine Datenbank über Rechenschieber mit einer Vielzahl von Fotos enthält
(3) Hopp, Peter M.: Slide Rules, their History, Models & Makers (1999)
(4) Jezierski, Dieter von: Rechenschieber, eine Dokumentation, Eigenverlag (1997)
(5) Schuitema, Ijzebrand: Rechenschieber und Rechenscheiben als Sammelobjekt in Historische Bürowelt Nr. 29 (September 1990)
Die Abbildungen sind Eigentum des Verfassers
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Alle Rechte beim Verfasser: Diethard Erbslöh
Mit Erlaubnis eingestellt von: F. Diestelkamp 15:16, 30. Apr 2005 (CEST)
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