Gezeitenrechner, erster deutscher
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1 Der erste deutsche Gezeitenrechner
Der Meeresspiegel an der Nordseeküste fällt und steig
im Rhythmus von Ebbe und Flut. Zweimal täglich schwankt
der Wasserstand zwischen Hoch- und Niedrigwasser, und
mit ihm ändern sich Richtung und Geschwindigkeit des Stromes.
Nicht nur Küstenschiffer müssen bei Fahrten übers Watt
sich den veränderlichen Gezeiten anpassen, selbst
beladene Supertanker können die Ölpier in Wilhelmshaven
nur auf dem Scheitel einer Flutwelle erreichen.
Die täglichen Eintrittszeiten von Hoch- und Niedrigwasser
sowie die Wasserstände für ein ganzes Jahr im Voraus
berechnen zu können, bedeutete eine Verbesserung der
navigatorischen Zuverlässigkeit. Die sogenannten
Tidekalender, denen die Gezeitenangaben entnommen
werden können, sind den Seefahrern ebenso wie den im
Küstenschutz tätigen Personen zu einem unentbehrlichen
Hilfsmittel geworden.
Grundlage der Vorausberechnung von Gezeiten sind vor Ort gemessene Tidekurven, die über längere Zeiten den Verlauf der Wasserstände wiedergeben. In den Häfen, an der Küste und auf den Inseln stehen Pegel zur automatischen Registrierung der Flutwellen oder Tiden.
Abbildung 1 zeigt beispielhaft eine solche Tidekurve.
Jeder Pegelort, d.h. jeder Hafen hat seinen eigenen
charakteristischen Gezeitenverlauf. Das zeigt sich
besonders deutlich an dem Tidenhub, dem Unterschied
zwischen Hoch- und Niedrigwasser. Auf der Insel Borkum
zum Beispiel beträgt der mittlere Tidenhub 2,3 m, in
Wilhelmshaven dagegen 3,8 m. Wie die Eintrittszeiten von
Ebbe und Flut, so variieren auch die Wasserstände mit
dem Stand des Mondes und der Sonne. Abhängig von ihrer
Konstellation spricht der Seefahrer von Spring-, Normal-
und Nipptide.
Die Aufgabe der Gezeitenvorhersage besteht nun darin,
für eine festgelegte Anzahl Häfen und Küstenorte den
täglichen Verlauf der individuellen Tidekurve zu bestimmen.
Der Berechnung liegt die Vorstellung zu Grunde, dass die
Tidewelle aus einer Vielzahl von Einzel- oder Partialwellen
besteht, die auf astronomische Einflüsse zurückgehen.
Aus der harmonischen Analyse der mit einem Hafenpegel
ermittelten Tidekurven ergibt sich je nach Aufwand eine
unterschiedliche Anzahl Partialwellen, die dann für
diesen Hafen als Basiswerte der Gezeitenberechnung dienen.
Die in der Rechnung durchgeführte Synthese fügt die
Partialwellen in ihrer richtigen, vom momentanen Ort
des Mondes und der Sonne bestimmten Lage wieder zusammen
zu der für den vorgegebenen Tag zu erwartenden Tidekurve.
Diese aufwendige und mühsame Methode verlangte in einer
Zeit fortschreitender Technik geradezu nach Mechanisierung
der Rechenarbeit. Das 1874 in Wilhelmshaven gegründete
Marineobservatorium befaßte sich als erstes wissenschaftliche
Institut in Deutschland mit der Erstellung von Tidekalendern
sowie der Vereinfachung der damit verbundenen Rechenarbeit.
Das Reichsmarineamt als vorgesetzte Dienststelle des
Marineobservatoriums gab dann 1914 den Auftrag zum Bau
des ersten deutschen Gezeitenrechners. Die Bauausführung
erfolgte 1915/16 durch die Werkstätten für wissenschaftliche
Instrumente Otto Toepfer und Sohn in Potsdam. Anschließend
wurde der Rechner (Abb. 2) im Marineobservatorium aufgestellt.
Im Herbst 1919 gelangte er mit dem Gezeitendienst zur
Deutschen Seewarte nach Hamburg.
Das Prinzip des mechanischen Gezeitenrechners soll im
Folgenden anhand der Abbildung 3 erläutert werden.
Eine in dem Punkt F befestigte Schnur wird um die
Rollen A, B und A, B zu einem Stift geführt. Zunächst
bleiben die beiden Rollen A und B unbeachtet.
Die Rolle B ist befestigt und die Rolle A kann in
einem in der Abbildung nicht dargestellten Schlitz
vertikal auf- und niedergleiten. Wenn A sich in vertikaler
Richtung um eine gewisse Strecke verschiebt, so muß der
Stift sich um die doppelte Strecke bewegen, und zwar
wenn A am höchsten steht, der Stift am tiefsten steht
und umgekehrt.
Der Stift berührt eine synchron drehende und mit Papier
bedeckte Trommel. Eine vertikale Bewegung der Rolle A
wird auf der Trommel als einfache Wellenlinie abgebildet.
Die Rolle A ist mit einem umgekehrten T-förmigen Rahmen
verbunden, und ein an der Kurbel C befestigter Stift greift
in den Spalt im horizontalen Arm des T-Stückes. Wenn die
Kurbel C eine Umdrehung macht, führt die Rolle A eine
vertikale Bewegung aus mit einer Amplitude, die von der
Länge des Kurbelarmes abhängt. Andererseits ist die Länge
des Kurbelarmes proportional der Amplitude einer Partialwelle.
Die Drehung des Kurbelarmes erfolgt mit einer
Winkelgeschwindigkeit, die ebenfalls proportional
der Winkelgeschwindigkeit dieser Partialwelle ist.
Analog der Wirkungsweise des Rollensystems A, B lässt
sich mit dem Rollenpaar A, B eine weitere harmonische
Welle darstellen. Wie Rolle A vollführt auch die Rolle A
bei befestigter Rolle B eine vertikale Bewegung,
jedoch mit der Amplitude der weiteren Partialwelle.
Durch das Zusammenwirken beider Rollenpaare A, B und A, B
wird auf der Trommel eine Kurve abgebildet, die der Synthese
zweier Partialwellen entspricht. Auf diese Weise lassen
sich die aus der harmonischen Analyse gewonnenen Partialwellen
mechanisch wieder zu einer für einen vorgegebenen Tag
gesuchten Tidekurve zusammensetzen, aus der dann die
gesuchten Eintrittszeiten und Höhen des Hoch- und
Niedrigwassers abgelesen werden können.
Der erste deutsche Gezeitenrechner gestattete, 20 Partialtiden
zu einer Tidekurve zu summieren. Innerhalb von acht Stunden
zeichnete die Maschine die Gezeitenkurven eines Hafens für ein Jahr.
Dieses mechanische Rechengerät, das in seiner Art sicherlich
eine Rarität darstellt, steht heute im Deutschen Schiffahrtsmuseum
in Bremerhaven.
Dr. Jan St. Ysker
2 Nachsatz
Pfingsten 2002, auf der Insel Norderney: Wir hatten unser 40-jähriges Abitur-Treffen in Norden und machten einen Ausflug auf die Insel. Herrlicher Strand, leichter Wind und kein Regen. Wir unterhielten uns über die Zeit zwischendurch, die Hobbies und Vorlieben. So erzählte mir Jan so ganz nebenbei, dass er ostfriesische Heimatkunde betreibt und u.A. - was mich aufhorchen ließ - auch eine Beschreibung des ersten deutschen Gezeitenrechners verfasst hat. Er war sofort bereit, mir den Text zu schicken und legte auch noch 2 Zeichnungen bei.
Das Bild 2 stammt mit Genehmigung aus http://www.dsm.de,
wo Interessierte noch weitere Informationen abrufen
können.
F. Diestelkamp
3 Literatur
4 Copyright
Alle Rechte beim Verfasser Dr. Jan St. Ysker.
Artikel mit Erlaubnis des Autors (Text, Bilder 1 und 3) und
des DSM (Bild 2) eingestellt von: F. Diestelkamp 11:12, 10. Aug 2004 (CEST)
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